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1. Samuel 24,1-20 | 4. Sonntag nach Trinitatis | 23.06.2024

Einführung in die Samuelbücher

Die Samuelbücher sind Teil des deuteronomistischen Literaturwerks über die Geschichte des Gottesvolkes Israel/Juda. Sie vereinigen Überlieferungen, die sich um die drei zentralen Figuren Samuel, Saul und David ranken. Thematisch geht es in erster Linie um die Entstehung des Königtums im Übergang von der Richterzeit („Samuel und Saul“: 1Sam 1–15), Davids Aufstieg zum König von Juda und Israel (1Sam 16–2Sam 5, darin „Saul und David“: 1Sam 16–31) sowie die Frage, welcher Sohn Davids seinem Vater auf dem Thron folgen und damit den Schritt zum Bestand der Dynastie tun soll (2Sam 6–20 mit 1Kön 1f.). In diesen Blöcken sind etliche kleinere Erzählzusammenhänge wie die Ladeerzählungen (1Sam 4–6; 2Sam 6) oder die Texte um David, Bathseba und Uria (2Sam 11f.) enthalten. Die Anhänge in 2Sam 21–24 vereinigen Erzählungen und Lieder.

1. Die Entstehung der Samuelbücher

Dass die Samuelbücher nicht einheitlich sind, zeigt u.a. eine größere Zahl von Doppelüberlieferungen (z.B. in der Geschichte von Davids Aufstieg 1Sam 16–2Sam 5) und Widersprüchen (z.B. in der Bewertung des Königtums in 1Sam 8–12). Die Bücher sind das Ergebnis eines vielschichtigen Bearbeitungsprozesses, in dem mithilfe bestehender Überlieferungen theologische Probleme diskutiert wurden, die durch die Katastrophe Jerusalems im Jahre 587/86 v. Chr. aufgekommen waren: Die Zerstörung der Stadt und des Tempels sowie das Ende der politischen Selbständigkeit hatten zu einer Krise geführt, in deren Verlauf alte Sicherheiten und überkommene Vorstellungen neu verhandelt wurden (s.u.). Die von der älteren Forschung (v.a. Leonhard Rost) herausgearbeiteten literarischen Einheiten wie Aufstiegs- oder Thronfolgegeschichte Davids markieren dabei thematische Zusammenhänge, die literarischen Prozesse (wie etwa die dtr oder weisheitlichen Bearbeitungen) vollziehen sich aber über deren Grenzen hinweg. In der gegenwärtigen Forschung herrscht eine rege Diskussion über den Umfang der alten Materialien und die Intensität der Überarbeitungen. Dabei steht einem großen Vertrauen in die Existenz vordtr Überlieferungen und in die frühe Königszeit als formative Epoche (z.B. Walter Dietrich) eine Sicht gegenüber, die ein lebendiges literarisches Wachstum in nachexilischer Zeit veranschlagt (z.B. Reinhard Müller).

2. Entstehungsort, Verfasser und Adressaten

Die Samuelbücher dürften insgesamt in Palästina bzw. Jerusalem entstanden sein. Zwar sind mündliche Stadien der Überlieferung nicht auszuschließen, aber die Aufnahme und Überarbeitung schriftlicher Materialien setzt eine Zugangsmöglichkeit zu den verfügbaren Quellen voraus, für die nur Jerusalem als geistiges Zentrum in Frage kommt. Die verschiedenen Verfasser- und Adressatenkreise sind im schriftgelehrten Milieu zu suchen. In ihren literarischen Aktivitäten schlägt sich ein bewegter Diskurs über geschichtliche und theologische Fragen nieder, wie sie im folgenden Abschnitt aufgezeigt werden.

3. Inhaltliche Schwerpunkte

Ein zentrales Thema ist das Königtum und die Erwählung des konkreten Königs durch Jhwh. Die Tatsache, dass es mit Saul einen König über Israel gibt, wird einerseits verhalten positiv (1Sam 9,1–10,16; 11,1–15), andererseits negativ als Abfall von Jhwh (8,1–22; 10,17–27; 12,1–25) bewertet. Hierin schlägt sich ein Diskurs nieder, der mit der Katastrophe von 587/86 v. Chr. in Gang gesetzt worden ist. König Saul wird als glücklose, wenn nicht tragische Figur gezeichnet (vgl. etwa c. 28); sein Verhalten führt schon bald dazu, dass sich Jhwh von ihm abwendet, ihn verwirft (c. 13–15). Ein ausführlicher Blick gilt davor dem „Königsmacher“ Samuel, der als Kultdiener am Heiligtum in Schilo, als Prophet sowie als Kleiner und Großer Richter zugleich charakterisiert wird (c. 1–7). Im Auftrag Jhwhs lenkt er die geschichtlichen Verläufe, die zu Sauls Königserhebung führen.

Schon zu Lebzeiten Sauls wird David als der von Jhwh erwählte König eingeführt, so die spätere theologische Interpretation und mit ihr das Leserwissen im Hintergrund (16,1–13). Mit David beschäftigen sich vielfältige Überlieferungen, die etwa von seinem Aufstieg am Königshof (16,14–23; 18–20), seinen Umtrieben als Haupt einer Truppe von Freischärlern (c. 22–26) und seinem Dienst unter Philisterkönig Achisch von Gat (c. 27 – 29) wissen. Der folgenden Darstellung scheint daran gelegen, ihn von jeglicher Schuld am Tod Sauls und der Seinen sowie am Ende der saulidischen Dynastie freizusprechen (1Sam 31; 2Sam 1–4; 9). Andere Texte wie die Geschichte von Bathseba und Uria mit der Nathanparabel (2Sam 11f.) äußern explizite Kritik. Hierin schlägt sich eine Diskussion über die Zukunft der davidischen Dynastie nieder, die in den Jahrhunderten nach dem Exil geführt wurde, denn die Hoffnung auf deren Restitution wurde nicht aufgegeben.

Die Überlieferungen von Davids späteren Jahren (2Sam 13–20) laufen auf die Königserhebung Salomos (1Kön 1f.) zu. Die Davidsöhne Amnon (2Sam 13f.), Absalom (2Sam 15–19) und Adonia (1Kön 1f.) kommen nicht als Davids Nachfolger in Frage. In der Erzählung von Absaloms Aufstand wird gezeigt, dass David trotz großer militärischer Bedrängnis letztlich durch Jhwhs Hilfe siegt.

Während all diese Texte David als mindestens schillernde Figur zeichnen, sehen andere in ihm den frommen Kultgründer. Nachdem er Jerusalem als künftige Hauptstadt erobert hat (2Sam 5,6–12), holt er das Unterpfand von Jhwhs Gegenwart, die Lade, nach deren Irrfahrten in die Stadt (c. 6). Seinem Wunsch, Jhwh ein Haus (einen Tempel) zu bauen, wird mit der Verheißung begegnet, vielmehr werde Jhwh dem David ein Haus (eine Dynastie) bauen. Nach diesem späten theologischen Deutetext 2Sam 7 geht der Bestand der davidischen Dynastie auf göttlichen Willen zurück, Davids Nachkomme auf dem Thron wird Gottes Sohn genannt (V. 14).

Es sind gerade die Nebenfiguren, die die Samuelbücher lebendig machen. Abgesehen von den Stoffen über die Angehörigen von Sauls Familie (Jonathan, Michal, Abner, Meribbaal u.a.) und von Davids Familie (Amnon, Absalom, Adonia u.a.) verleihen z.B. die Erzählungen von Hannah (1Sam 1f.), von Eli und seinen Söhnen (c. 4–6), von Abigail und Nabal (c. 25), von der Frau aus En Dor (c. 28), von Nathan (2Sam 7; 11) oder von der Frau aus Thekoa (c. 14) den Büchern ein vielfältiges Profil. Und dies sind nur wenige Beispiele.

4. Besonderheiten

  • Im Kanon der Hebräischen Bibel werden 1 und 2Sam als ein Buch gezählt.
  • Masoretischer Text, Qumran (v.a. 1QSama) und LXX weichen an einzelnen Textstellen erheblich voneinander ab. Das Verhältnis der Textüberlieferungen ist aber noch nicht abschließend geklärt.
  • In 2Sam 11f. wird paradigmatisch das Problem von Schuld und Vergebung behandelt.
  • 2Sam 22 stellt eine Parallelüberlieferung zu Ps 18 dar.
  • In 2Sam 21,19 wird ein gewisser Elhanan ben Jair (statt Davids, 1Sam 17) als Bezwinger des riesengroßen Philisters Goliath genannt.

Literatur:

  • Dietrich, W., 1997, Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jahrhundert v. Chr. (BE 3), Stuttgart / Berlin / Köln.
  • Müller, R., 2004, Königtum und Gottesherrschaft. Untersuchungen zur alttestamentlichen Monarchiekritik (FAT II/3), Tübingen.
  • Rost, L., 1926, Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids (BWANT 42), Stuttgart.

Kommentare

  • Stoebe, H. J., 1973, Das erste Buch Samuelis (KAT VIII/1), Gütersloh.
  • Stoebe, H. J., 1994, Das zweite Buch Samuelis. Mit einer Zeittafel von A. Jepsen (KAT VIII/2), Gütersloh.

A) Exegese kompakt: 1. Samuel 24,1-20

1וַיַּ֥עַל דָּוִ֖ד מִשָּׁ֑ם וַיֵּ֖שֶׁב בִּמְצָד֥וֹת עֵֽין־גֶּֽדִי׃ 2וַיְהִ֗י כַּֽאֲשֶׁר֙ שָׁ֣ב שָׁא֔וּל מֵאַחֲרֵ֖י פְּלִשְׁתִּ֑ים וַיַּגִּ֤דוּ לוֹ֙ לֵאמֹ֔ר הִנֵּ֣ה דָוִ֔ד בְּמִדְבַּ֖ר עֵ֥ין גֶּֽדִי׃ ס

3וַיִּקַּ֣ח שָׁא֗וּל שְׁלֹ֧שֶׁת אֲלָפִ֛ים אִ֥ישׁ בָּח֖וּר מִכָּל־יִשְׂרָאֵ֑ל וַיֵּ֗לֶךְ לְבַקֵּ֤שׁ אֶת־דָּוִד֙ וַֽאֲנָשָׁ֔יו עַל־פְּנֵ֖י צוּרֵ֥י הַיְּעֵלִֽים׃ 4וַ֠יָּבֹא אֶל־גִּדְר֨וֹת הַצֹּ֤אן עַל־הַדֶּ֨רֶךְ֙ וְשָׁ֣ם מְעָרָ֔ה וַיָּבֹ֥א שָׁא֖וּל לְהָסֵ֣ךְ אֶת־רַגְלָ֑יו וְדָוִד֙ וַאֲנָשָׁ֔יו בְּיַרְכְּתֵ֥י הַמְּעָרָ֖ה יֹשְׁבִֽים׃ 5וַיֹּאמְרוּ֩ אַנְשֵׁ֨י דָוִ֜ד אֵלָ֗יו הִנֵּ֨ה הַיּ֜וֹם אֲֽשֶׁר־אָמַ֧ר יְהוָ֣ה אֵלֶ֗יךָ הִנֵּ֨ה אָנֹכִ֜י נֹתֵ֤ן אֶת־אֹֽיִבְיךָ֙ בְּיָדֶ֔ךָ וְעָשִׂ֣יתָ לּ֔וֹ כַּאֲשֶׁ֖ר יִטַ֣ב בְּעֵינֶ֑יךָ וַיָּ֣קָם דָּוִ֗ד וַיִּכְרֹ֛ת אֶת־כְּנַֽף־הַמְּעִ֥יל אֲשֶׁר־לְשָׁא֖וּל בַּלָּֽט׃ 6וַֽיְהִי֙ אַֽחֲרֵי־כֵ֔ן וַיַּ֥ךְ לֵב־דָּוִ֖ד אֹת֑וֹ עַ֚ל אֲשֶׁ֣ר כָּרַ֔ת אֶת־כָּנָ֖ף אֲשֶׁ֥ר לְשָׁאֽוּל׃ ס

7וַיֹּ֨אמֶר לַאֲנָשָׁ֜יו חָלִ֧ילָה לִּ֣י מֵֽיהוָ֗ה אִם־אֶעֱשֶׂה֩ אֶת־הַדָּבָ֨ר הַזֶּ֤ה לַֽאדֹנִי֙ לִמְשִׁ֣יחַ יְהוָ֔ה לִשְׁלֹ֥חַ יָדִ֖י בּ֑וֹ כִּֽי־מְשִׁ֥יחַ יְהוָ֖ה הֽוּא׃ 8וַיְשַׁסַּ֨ע דָּוִ֤ד אֶת־אֲנָשָׁיו֙ בַּדְּבָרִ֔ים וְלֹ֥א נְתָנָ֖ם לָק֣וּם אֶל־שָׁא֑וּל וְשָׁא֛וּל קָ֥ם מֵהַמְּעָרָ֖ה וַיֵּ֥לֶךְ בַּדָּֽרֶךְ׃ ס

9וַיָּ֨קָם דָּוִ֜ד אַחֲרֵי־כֵ֗ן וַיֵּצֵא֙ מֵֽן־הַמְּעָרָ֔ה וַיִּקְרָ֧א אַֽחֲרֵי־שָׁא֛וּל לֵאמֹ֖ר אֲדֹנִ֣י הַמֶּ֑לֶךְ וַיַּבֵּ֤ט שָׁאוּל֙ אַֽחֲרָ֔יו וַיִּקֹּ֨ד דָּוִ֥ד אַפַּ֛יִם אַ֖רְצָה וַיִּשְׁתָּֽחוּ׃ ס

10וַיֹּ֤אמֶר דָּוִד֙ לְשָׁא֔וּל לָ֧מָּה תִשְׁמַ֛ע אֶת־דִּבְרֵ֥י אָדָ֖ם לֵאמֹ֑ר הִנֵּ֣ה דָוִ֔ד מְבַקֵּ֖שׁ רָעָתֶֽךָ׃ 11הִנֵּה֩ הַיּ֨וֹם הַזֶּ֜ה רָא֣וּ עֵינֶ֗יךָ אֵ֣ת אֲשֶׁר־נְתָנְךָ֩ יְהוָ֨ה ׀ הַיּ֤וֹם ׀ בְּיָדִי֙ בַּמְּעָרָ֔ה וְאָמַ֥ר לַהֲרָגֲךָ֖ וַתָּ֣חָס עָלֶ֑יךָ וָאֹמַ֗ר לֹא־אֶשְׁלַ֤ח יָדִי֙ בַּֽאדֹנִ֔י כִּי־מְשִׁ֥יחַ יְהוָ֖ה הֽוּא׃ 12וְאָבִ֣י רְאֵ֔ה גַּ֗ם רְאֵ֛ה אֶת־כְּנַ֥ף מְעִילְךָ֖ בְּיָדִ֑י כִּ֡י בְּכָרְתִי֩ אֶת־כְּנַ֨ף מְעִֽילְךָ֜ וְלֹ֣א הֲרַגְתִּ֗יךָ דַּ֤ע וּרְאֵה֙ כִּי֩ אֵ֨ין בְּיָדִ֜י רָעָ֤ה וָפֶ֨שַׁע֙ וְלֹא־חָטָ֣אתִי לָ֔ךְ וְאַתָּ֛ה צֹדֶ֥ה אֶת־נַפְשִׁ֖י לְקַחְתָּֽהּ׃ 13יִשְׁפֹּ֤ט יְהוָה֙ בֵּינִ֣י וּבֵינֶ֔ךָ וּנְקָמַ֥נִי יְהוָ֖ה מִמֶּ֑ךָּ וְיָדִ֖י לֹ֥א תִֽהְיֶה־בָּֽךְ׃ 14כַּאֲשֶׁ֣ר יֹאמַ֗ר מְשַׁל֙ הַקַּדְמֹנִ֔י מֵרְשָׁעִ֖ים יֵ֣צֵא רֶ֑שַׁע וְיָדִ֖י לֹ֥א תִֽהְיֶה־בָּֽךְ׃ 15אַחֲרֵ֨י מִ֤י יָצָא֙ מֶ֣לֶךְ יִשְׂרָאֵ֔ל אַחֲרֵ֥י מִ֖י אַתָּ֣ה רֹדֵ֑ף אַֽחֲרֵי֙ כֶּ֣לֶב מֵ֔ת אַחֲרֵ֖י פַּרְעֹ֥שׁ אֶחָֽד׃ 16וְהָיָ֤ה יְהוָה֙ לְדַיָּ֔ן וְשָׁפַ֖ט בֵּינִ֣י וּבֵינֶ֑ךָ וְיֵ֨רֶא֙ וְיָרֵ֣ב אֶת־רִיבִ֔י וְיִשְׁפְּטֵ֖נִי מִיָּדֶֽךָ׃ פ

17וַיְהִ֣י ׀ כְּכַלּ֣וֹת דָּוִ֗ד לְדַבֵּ֞ר אֶת־הַדְּבָרִ֤ים הָאֵ֨לֶּה֙ אֶל־שָׁא֔וּל וַיֹּ֣אמֶר שָׁא֔וּל הֲקֹלְךָ֥ זֶ֖ה בְּנִ֣י דָוִ֑ד וַיִּשָּׂ֥א שָׁא֛וּל קֹל֖וֹ וַיֵּֽבְךְּ׃ 18וַיֹּ֨אמֶר֙ אֶל־דָּוִ֔ד צַדִּ֥יק אַתָּ֖ה מִמֶּ֑נִּי כִּ֤י אַתָּה֙ גְּמַלְתַּ֣נִי הַטּוֹבָ֔ה וַאֲנִ֖י גְּמַלְתִּ֥יךָ הָרָעָֽה׃ 19וְאַתָּ֙ הִגַּ֣דְתָּ הַיּ֔וֹם אֵ֛ת אֲשֶׁר־עָשִׂ֥יתָה אִתִּ֖י טוֹבָ֑ה אֵת֩ אֲשֶׁ֨ר סִגְּרַ֧נִי יְהוָ֛ה בְּיָדְךָ֖ וְלֹ֥א הֲרַגְתָּֽנִי׃ 20וְכִֽי־יִמְצָ֥א אִישׁ֙ אֶת־אֹ֣יְב֔וֹ וְשִׁלְּח֖וֹ בְּדֶ֣רֶךְ טוֹבָ֑ה וַֽיהוָה֙ יְשַׁלֶּמְךָ֣ טוֹבָ֔ה תַּ֚חַת הַיּ֣וֹם הַזֶּ֔ה אֲשֶׁ֥ר עָשִׂ֖יתָה לִֽי׃

Samuel I 24:1-20BHSBibelstelle anzeigen

Übersetzung

(1) Und David stieg von dort auf und blieb in den Bergfesten von En-Gedi. (2) Als nun Saul von der Verfolgung der Philister zurückgekehrt war, teilte man ihm mit: David ist in der Wüste von En-Gedi. (3) Da nahm Saul dreitausend Mann, auserlesen aus ganz Israel, und zog aus, um David und seine Männer bei den Steinbockfelsen zu suchen. (4) Und er kam zu den Schafhürden am Weg; da lag eine Höhle, in die ging Saul hinein, um seine Füße zu bedecken. Aber David und seine Männer saßen im hinteren Teil der Höhle. (5) Da sagten Davids Männer zu ihm: Das ist der Tag, von dem der Herr zu dir gesagt hat: Ich will deinen Feind in deine Hand geben, damit du mit ihm tust, wie es in deinen Augen gut ist. Da stand David auf und schnitt heimlich den Zipfel von Sauls Mantel ab. (6) Danach aber schlug David das Herz, weil er den Zipfel von Sauls Mantel abgeschnitten hatte. (7) Und er sagte zu seinen Männern: Das sei um des Herrn willen fern von mir, dass ich meinem Herrn, dem Gesalbten des Herrn so etwas antue, meine Hand gegen ihn auszustrecken; denn er ist der Gesalbte des Herrn. (8) Und David fuhr seine Männer mit diesen Worten an und ließ nicht zu, dass sie sich gegen Saul erhoben. Saul aber war von der Höhle aufgebrochen und ging seines Weges.

(9) Danach stand David auf und ging aus der Höhle und rief hinter Saul her: Mein Herr, König! Da blickte Saul hinter sich, David aber verneigte sich mit dem Angesicht zur Erde und fiel nieder. (10) Und David sagte zu Saul: Warum hörst du auf die Worte von Menschen, die sagen: Siehe, David trachtet nach deinem Unheil? (11) Am heutigen Tage haben deine Augen gesehen, dass dich der Herr heute in der Höhle in meine Hand gegeben hat. Man hat (mir) gesagt, dich zu töten, aber ich habe dich verschont und gesagt: Ich will meine Hand nicht gegen meinen Herrn ausstrecken, denn er ist der Gesalbte des Herrn. (12) Mein Vater, sieh: Sieh doch den Zipfel deines Mantels in meiner Hand. Fürwahr daran, dass ich den Zipfel deines Mantels abgeschnitten und dich nicht getötet habe, erkenne und sieh, dass in meiner Hand nichts Böses und kein Vergehen ist, und ich mich nicht an dir versündigt habe. Du aber stellst mir nach, um mir das Leben zu nehmen. (13) Der Herr soll zwischen mir und dir richten, der Herr soll für mich Rache an dir nehmen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein. (14) Wie das Sprichwort der Vorfahren sagt: Von Frevlern kommt Frevel; aber meine Hand soll nicht gegen dich sein. (15) Hinter wem zieht der König Israels her? Hinter wem jagst du her? Hinter einem toten Hund! Hinter einem einzelnen Floh! (16) Der Herr aber soll Richter sein, er soll zwischen mir und dir richten und (es an)sehen und meinen Rechtsstreit führen und mir Recht schaffen von deiner Hand.

(17) Nachdem David diese Worte zu Saul zu Ende geredet hatte, sagte Saul: Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Dann erhob Saul seine Stimme und weinte. (18) Und er sagte zu David: Du bist gerechter als ich, denn du hast mir Gutes vergolten, ich aber habe dir Böses vergolten. (19) Und du hast heute kundgetan, was du an mir Gutes getan hast, weil der Herr mich in deine Hand ausgeliefert hat, du mich aber nicht getötet hast. (20) Und ja: Da trifft jemand auf seinen Feind und lässt ihn auf gutem Wege ziehen! Der Herr aber soll dir Gutes vergelten für das, was du heute an mir getan hast.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.1: Die Angabe „von dort“ bezieht sich auf die Wüste Maon (1Sam 23,24), einem Gebiet im judäischen Bergland. En-Gedi ist eine Oase am Westufer des Toten Meeres.

V.3: Die Steinbockfelsen lassen sich geographisch nicht identifizieren.

V.4: Die Wendung „seine Füße [sc. mit dem Gewand] bedecken“ fungiert als Euphemismus für die Verrichtung der Notdurft, vgl. Ri 3,24.

V.5: Das Gottesversprechen „Ich will deinen Feind … gut ist“ begegnet im AT nur hier. Mit dem Qere, vielen weiteren hebräischen Handschriften und den antiken Übersetzungen sowie 2Sam 26,8 wird bei „deinen Feind“ der Sg. statt Ketib Pl. gelesen.

V.6: Mit einigen hebräischen Handschriften, LXX, Peschitta und Vulgata wird wie in V.5 „Sauls Mantel“ gelesen. Zum Motiv vgl. 1Sam 15,27–29.

V.7: Die Aussage „dass ich meinem Herrn, dem Gesalbten des Herrn so etwas antue“ ist im Hebräischen als Schwur formuliert.

V.11: Statt der 3.pers.fem.sing. des MT wird im Satz „ich habe dich verschont“ mit LXX, Peschitta und Targum die 1.pers. gelesen. Wollte man bei MT bleiben, wäre in Analogie zur Vulgata als Subjekt „mein Auge“ (fem.) zu ergänzen, vgl. Ez 16,5.

V.12: Sauls respekt- und fast vertrauensvoller Anrede durch David mit „mein Vater“ entspricht in der Antwort V.17 „mein Sohn David“.

V.15: Der Selbstvergleich mit einem toten Hund (2Sam 9,8; 16,9; Lak 1.2, Z.3f) und einem Floh dient einerseits der Selbstminderung und zeigt andererseits die Absurdität von Sauls Nachstellungen.

V.19: Zu Beginn von V. 19b wird mit 4QSama „weil“ statt MT „was“ gelesen.

2. Literarische Gestalt

Die Perikope ist in vorliegender Fassung ein theologisches Paradigma, ihr Inhalt historiographisch kaum zu fassen. Sie besteht aus zwei Teilen: V. 1–8 Einleitung und Szene in der Höhle, V.9–20(23): Dialog von David und Saul. V.21–23 gehen klar über den gedanklichen Rahmen der Perikope hinaus: Saul bekennt, dass David bestimmt König wird und nimmt ihm den Schwur ab, seine Nachkommen zu verschonen. Damit werden auch Verknüpfungen zu den Erzählstoffen in 2Sam 4; 9; 16; 19 und 1Kön 2 hergestellt.

V.1–8 sind in erzählender Prosa gehalten, deren Struktur durch Sätze im Narrativ entsteht. In V.2b.5a.7 begegnen kurze wörtliche Reden. Die derbe Erzählung von Davids Streich (V.1–4.5b.6.8b) könnte auf eine volkstümliche Überlieferung zurückgehen, sie erfährt durch Davids Wort an seine Männer (V.7, vgl. V.5a.8) eine nachträgliche theologische Deutung. V.9–20 haben zwar eine narrative Rahmung (V. 9.17*.23), erhalten ihre Kontur aber durch längere Reden mit viel Anrede in 2.pers.: V.10–16 David an Saul, V.17*.18–20(22) Saul an David.

3. Kontext

David hat am Hofe Sauls Karriere gemacht, er schließt mit Sauls Sohn Jonathan Freundschaft und heiratet die Königstochter Michal. Doch Saul neidet David seine militärischen Erfolge und trachtet ihm nach dem Leben (1Sam 16–18). David flieht, zunächst nach Gat (1Sam 21,11) und in die Schefela (1Sam 22,1), dann sammelt er eine Truppe von Freibeutern, mit denen er sich in der judäischen Wüste verbirgt. Hierher jagt ihm Saul nach (1Sam 23). 1Sam 24–26 ist ein kleiner kompositorischer Zusammenhang, der Davids Umgang mit Macht und Gewalt zum Thema hat und dies im Rahmen des Tun-Ergehen-Zusammenhanges reflektiert. In 1Sam 26 findet sich eine Parallelüberlieferung zu 1Sam 24 mit engen sprachlichen und inhaltlichen Berührungen, die auch viele Einzelzüge betreffen. Einige Unterschiede begegnen in der Szenerie; außerdem werden in 1Sam 26 stärkere vergeltungstheologische Akzente gesetzt (V.21.23). Nach 1Sam 27–29 läuft David zu König Achisch von Gat über und begibt sich damit in philistäische Dienste, die auch die Heeresfolge einschließen. Diese Überlieferungen (1Sam 26; 27–29) konnten literarisch integriert werden, da Saul trotz seines Bekenntnisses von 1Sam 24,21(–23) David weiterhin verfolgt, vgl. 1Sam 26,1f.; 1Sam 27,1. In 2Sam wird narrativ entsprechend diskutiert, ob David am Tod der Sauliden Schuld oder Mitschuld hat.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Durch den Machtkampf von Saul und David ist zur äußeren Bedrohung durch die Philister eine innere gekommen. Mit seinen 400 Mann (22,2) wäre David den 3000 Sauls (24,3) wohl unterlegen, doch handelt es sich um ideale Zahlenangaben. Beide Männer werden in der ursprünglichen Episode (V.1–4.5b.6.8b.9f.17b) als menschlich gezeichnet: Saul in seinem natürlichen Bedürfnis (V.4), David in seiner Angst (V.6). David kommt in seinem wagemutigen Handeln Saul so nahe, dass er den Verfolger, der sein Leben bedroht, einfach hätte töten können. In der anschließenden Szene außerhalb der Höhle stellt er ihn.

Die Überarbeitungen steigern die Dramatik der Szene: David ruft Saul hinterher und erweist ihm die gebührende Ehre (V.9); Saul erkennt David an seiner Stimme, was er mit einer rhetorischen Frage bekräftigt (V.17a). Theologisch motivierte Fortschreibungen halten fest: Saul ist immerhin noch der Gesalbte, der Messias Jhwhs, den David nicht antasten darf (V.5a.7). Im Dialogteil wird dies aufgenommen und durch andere Aspekte ergänzt. Obwohl Jhwh Saul in Davids Hand gegeben hatte, hat dieser die Situation nicht ausgenutzt (V.11.19f). Damit wird Davids Gerechtigkeit gezeigt; Böses oder Schuld können ihm nicht vorgeworfen werden, während ihm Saul nach dem Leben trachtet (V.12). Das Sprichwort von V.14 ließe sich daher auf Saul anwenden.

Nach V.13.16 appelliert David wie in einem Gerichtsverfahren an Jhwhs Gerechtigkeit: Der nachvollziehbare Rachewunsch wird dem Gott Israels anheimgestellt (vgl. Dtn 32,35; Ps 94,1). David dagegen maßt sich den Vollzug der Rache nicht an. In der Antwort bekennt Saul: „Du bist gerechter als ich“, was vergeltungstheologisch begründet wird (V. 18). In dieser Erkenntnis scheint sich Saul zu wandeln, denn er wünscht, dass Jhwh David Gutes vergilt. All diese Aussagen, auch die Reflexion über den Racheverzicht, stehen im Zusammenhang mit (weisheitlich beeinflussten) Bearbeitungen im Samuelbuch, die die Verläufe unter dem Blickwinkel des Tun-Ergehen-Zusammenhanges sehen, ausgestalten und in ihnen Gottes Gerechtigkeitswirken nachweisen. David ist nach diesen Fortschreibungen eine Art exemplarischer Gerechter (sowie vorbildlicher Kultgründer), was literarisch durch sein Verhalten begründet wird.

5. Theologische Perspektivierung

Gut und Böse scheinen klar verteilt (V.18): Saul verfolgt David, an dem kein Fehl zu finden ist, völlig zu Unrecht. Doch der Befund in den Samuelbüchern insgesamt ist anders: (Der literarische) Saul ist nicht einfach ein Frevler, sondern eher eine tragische Figur; (der literarische) David nicht unbedingt ein Gerechter, sondern ein Mensch und streckenweise ein Schlagetot mit erheblicher krimineller Energie. Davids Verhalten gegenüber Saul nach 1Sam 24 kann als bewusster Gewaltverzicht gedeutet werden, andererseits beschämt er ihn durch die Verschonung so stark, dass Saul mit der Aussage „Du bist gerechter als ich“ und unter Tränen quasi theologisch kapituliert. Entsprechend zeigt sich im Davidbild eine hohe Wertschätzung seiner Person und wahrscheinlich auch der von ihm ausgehenden Dynastie. Nachdem Saul verworfen worden ist (1Sam 13–15), hat Jhwh David erwählt, und diese Erwählung bleibt trotz der zahlreichen sehr problematischen Züge des Königs bestehen. Andere Texte im näheren Kontext werten das Königtum grundsätzlich als Abfall von Jhwh (1Sam 8; 1Sam 10,1–17) oder üben starke Kritik an Figur und Dynastie Davids (2Sam 11,6–10a*; 1Kön 1,11–18*.32–34; 50–53*; 2,25.28–30*.34f*).

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese führt tief in das Verständnis der Perikope hinein. Der Blick auf das Ganze der Überlieferung eröffnet verschiedenste Perspektiven, die für eine Predigt fruchtbar gemacht werden können. Insbesondere die Ambivalenz in der Bewertung der Personen Davids und Sauls, vielleicht auch des Königtums allgemein, verändern die in der Perikope zunächst angelegte Verteilung von Gut und Böse. Auch das Verhältnis von Gesetz und Gnade, Kultus und Zwischenmenschlichem, Macht und Gefolgschaft sind auf der Erzählebene spannungsreich angelegt. Zugleich wird deutlich, wie unerlässlich Exegese ist, um einen Bibeltext zu verstehen. Am auffälligsten ist V. 4 („Füße decken“, schon in den Bibelausgaben mit einer Erläuterung versehen). Aber auch die weiteren Personenkonstellationen und Motiverklärungen ermöglichen erst das Verstehen. Die präzise Übersetzung weicht an einzelnen Stellen vom Text der Luther-Bibel ab. Besonders im letzten Vers der Perikope (V. 20) ergibt sich eine Deutungsverschiebung: Das „Wo ist jemand“ der Lutherbibel eröffnet einfacher eine Verallgemeinerung als „Und ja: Da trifft…“ (wie oben). Insgesamt erscheint die etablierte Übersetzung gut für Gottesdienste nutzbar.

2. Thematische Fokussierung

Die Exegese unterstützt eine lebensnahe, aussagestarke, gegenwärtige Predigt. Das liegt einerseits am Predigttext selbst, der sehr anschaulich ist. Es liegt andererseits daran, dass die Exegese Einzelheiten und Zusammenhänge erläutert und vor Fehldeutungen schützt. Solch eine ‚abgesicherte Narration‘ lässt sich gut erzählen und zu Schlussfolgerungen führen.

Verschiedene konkrete Zusammenhänge sind auch in der Gegenwart aufzufinden: von Macht und Angst, Überlegenheit und Gnade, Gerechtigkeit, Gottesfurcht, aber auch von ‚übler Nachrede‘ einerseits – Saul redet schlecht von David – und Enttäuschung sowie Not und Feindschaft andererseits – bei Davids Männern, die „in Not und Schulden und verbitterten Herzens waren“ (1Sam 22,2). Die Situation in der Höhle und das Gespräch danach illustrieren ganz verschiedene Umgangsweisen mit diesen Zusammenhängen. Dabei geht es weniger um die Personen an sich als um das Verhalten. Die Exegese warnt auch davor, im Sinne der Anschaulichkeit die Personen zu überzeichnen: der strahlende, barmherzige, gottesfürchtige, geradezu edle David hier, der weinerliche, ungerechte, machtbesessene Saul dort. Auch die in der biblischen Textform vorliegende „ursprüngliche“ Aussageabsicht, den Dynastiewechsel von Saul zu David zu rechtfertigen und David als Dynastiegründer von Verdächtigungen freizusprechen, dürfte in der Gegenwart nicht verwendbar sein. Schließlich erscheint die Perikope nicht geeignet, um die laut Exegese hinter einigen Motiven im Text stehende Frage nach der Herrschaftsform akut aufzunehmen – die Frage nach Ausübung von Macht oder Verzicht darauf allerdings schon.

3. Theologische Aktualisierung

Bei der Predigt über diesen Text besteht die Gefahr, nach der anschaulichen Erzählung rasch zu einer kurzschlüssigen Folgerung zu kommen – „David ist gut und tötet Saul nicht; Saul ist böse und verleumderisch“ – und dort stehen zu bleiben. Zwar liegt der „Zuspruch“ in der Gnadenerfahrung Davids: Saul und seine 3000 Krieger wären David und seinen 400 Gefolgsleuten überlegen gewesen, aber Gott rettet David. Auch der „Anspruch“ ist grundsätzlich deutlich: Lass Gnade vor Rache und brutaler Gewalt ergehen; Gnade trägt weiter.

Dazu gehört jedoch das Bündel von Motiven und Motivationen: 1) Die Protagonisten sind von Ängsten geleitet, vor Machtverlust und vor Lebensverlust. Die Machtumkehr in der Höhle ist auffällig: Saul ist wehrlos, David hätte alle Handlungsmacht. 2) Rache und Neid spielen eine Rolle. 3) David muss seine Männer bremsen, die sogar mit dem Argument einer Gottesverheißung David zum Handeln bewegen wollen. Und die Männer hätten allen Grund zur Rache an Saul (s. o.). 4) Vermutlich wird das Motiv, dass David Saul nicht tötet, weil dieser der Gesalbte Gottes ist, erst von einer späteren Bearbeitung eingefügt: Frömmigkeit ist hier ausschlaggebend für den Verzicht auf Rache und Gewalt. 5) Daneben stehen Motive der persönlichen Verbundenheit (mitschwingend im Erkennen der Stimme und den typologischen Anreden Vater / Sohn, [V.12.17]), der Demut (Verneigen, Floh, Hund) und der Emotionen (Saul weint). Wie sind sie einzuordnen, wie „echt“ sind sie, und was bezwecken sie? 6) Davids lange und bittere Vorwürfe über das Verhalten Sauls, die ungerechte Verfolgung, die üble Nachrede stellen einen starken Zug in der Geschichte dar; gegenwärtige Verfolgungs-, Fake- und schwere Mobbingsituationen sind ein möglicher Bezug. 7) Ein eigentümlicher, ziemlich derber ‚Humor‘ scheint in der Geschichte auf, wenn der überlegene König beim Austreten wehrlos ist oder David die Jagd mit 3000 Kriegern nach ihm als absurde Verfolgung eines Flohs oder Hundes charakterisiert; das Motiv des Austretens ist auch ein unappetitlicher Moment in der Geschichte.

Am stärksten gegenwartsnah ist wahrscheinlich das Motiv, wie der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt hier durchbrochen wird. Damit ist die Geschichte ganz nah bei Zügen der Botschaft und des Lebens Jesu Christi. In der individuellen Begegnung scheint auch die Frage nach Wegen zum Frieden, nach dem Ende von Streit und Verfolgung, nach Gnade und Barmherzigkeit angesichts von Macht auf. Wieder ist Vorsicht vor Kurzschlüssen angebracht: Für David geht der Machtverzicht anders aus als für Jesus; die Folgen sind innerweltlich; David ist zwar auch „Gesalbter“ und motivisch enge Bezugsperson zu Jesus, aber doch alles andere als ein Heiliger und Gotteskind im Sinne Jesu. Friedens- und Machtfragen werden in der Gegenwart neu gestellt. Illustriert Davids geradezu „salomonisches“ Handeln, mit dem Abschneiden des Mantelzipfels die temporäre Überlegenheit zu beweisen, ohne sie zur Rache zu nutzen, wirklich etwas Grundsätzliches über Machtverzicht? Im Vergleich zwischen Jesu Friedfertigkeit und Davids – seltenem – Machtverzicht tritt ein grundlegender Unterschied zutage: Jesu Ohnmacht im Leben bis hin zum Kreuz wird zur todüberwindenden Macht universaler Dimension. Davids Verzicht auf Rache sichert ihm innerweltlichen Erfolg, auch das Überleben, aber doch mit anderer Dimension.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der Predigttext spricht verschiedene, geradezu zeitlose Lebenserfahrungen an, die im Horizont von Glaube und christlicher Religion aufgenommen werden. Ebenso ist es mit den Texten zum 4. Sonntag nach Trinitatis: Eindrücklich sind die Leidens- und Klagebilder aus Ps 42 und seine Wendung zur Geduld, ein häufig bei Beerdigungen verwendeter Psalm. Auch das Motiv der Häme klingt an: „Wo ist nun dein Gott?“ Die atl. Lesung Gen 50,15–21 nennt die Angst der Brüder Josephs und seine Vergebung mit Verweis auf Gottes „größeren“ Willen; eine kurze Einleitung zur Situation wäre bei der Lesung nötig. Die Epistellesung Röm 12,17–21 fasst die ntl. Auffassung zu friedlichem Handeln und Rache zusammen (humorvoll könnte: „Sei nett zu deinem Feind, nichts ärgert ihn mehr“ aufgenommen werden – bei allem Bewusstsein für die Unterschiede, s. o.). Das Evangelium Lk 6,36–42 dagegen enthält zwar auch Verhaltenshinweise, führt aber nicht zum Predigttext hin, da es bei der Barmherzigkeit um das Gottesverhältnis geht. Bei den Wochenliedern sind die Motive von EG 428 „Komm in unsre stolze Welt“ weiter von denen des Predigttextes entfernt als das ältere EG 495 „O Gott, du frommer Gott“. Lieder zum Thema Umkehr / Vergebung (oder zu Schonung / Annahme wie Ian Smalls „Vater, deine Liebe“) passen zu Gedanken des Predigttextes; als neueres Lied EG.E 12 „Meine engen Grenzen“, am Ende EG 395 „Vertraut den neuen Wegen“, EG 221 „Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen“  oder, falls ein Motiv wie trotz Angst bei Gott zu bleiben aufgenommen wird, EG 365 „Von Gott will ich nicht lassen“. Der Wochenspruch schließlich – Gal 6,2: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ – kann gut als Ausgangspunkt genommen werden, um den Unterschied zwischen jesuanischer Friedfertigkeit und Davids Verhalten zu beschreiben.

5. Anregungen

Bei allen Unterschieden ist der Predigttext eine gut erzählbare, anschauliche Geschichte, aus der sich die jeweilige Botschaft des Gottesdienstes entwickeln lässt. Dabei können der starke Ps 42, die ausgewogene AT- und Epistellesung, die Geschichte des Predigttextes und Gebete, die die Situation von zu viel Hass, Rache, Krieg und Verfolgung in der Welt aufnehmen, durch ganz verschiedene emotionale Lagen führen.

Autoren

  • Prof. Dr. Thilo Alexander Rudnig (Einführung und Exegese)
  • Andreas Ohlemacher (Praktisch-theologische Resonanzen)

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